Alle reden von Krisen. Ich höre immer wieder, dass wir in der Krise stecken und dass wir aktuell viele Krisen parallel haben, was den Umgang damit nicht leichter macht. Aber stimmt das tatsächlich oder stehen wir gar vor viel weiter reichenden Herausforderungen. Sind das sogar Bedrohungen, die da vor der Tür stehen?
Inspiriert durch ein neues Buch und einen Blog-Beitrag von Covolution zum Ende der Hochleistung, entstand dieser neue Beitrag aus der Provinz.
Krisen und Bedrohungen
Wie stehen Sie zu den Begriffen „Krise“ und „Bedrohung“?
Ich verstehe unter „Krise“ einen vorübergehenden Zustand, der geregelt, bewältigt oder anderweitig bearbeitet werden kann. Besonders gefragt sind in solchen Situationen Krisenmanager und/oder Kriseninterventionskräfte.
Ein Beispiel: Brennt es in einem Haus, braucht es die Feuerwehr. Ist der Brand gelöscht, tritt der vorherige Zustand wieder ein. Die Schäden werden beseitigt und anschließend ist nahezu alles wir vorher.
Die Bundeszentrale für politische Bildung definiert Krise folgendermaßen: „Krise bezeichnet eine über einen gewissen (längeren) Zeitraum anhaltende massive Störung des gesellschaftlichen, politischen oder wirtschaftlichen Systems. Krisen bergen gleichzeitig auch die Chance zur (aktiv zu suchenden qualitativen) Verbesserung.“
Soweit so gut. Die Anforderung ist also, das bestehende System zu stabilisieren und vielleicht auch mit einigen Verbesserungen zu versehen und grundsätzlich zu erhalten.
Im Gegensatz dazu steht die „Bedrohung“. Die Ausgangssituation ist vielleicht erst einmal die Gleiche. Im Buch „Krisen anders denken“ werden Bedrohungen anders beschrieben. „Bedrohungen sind Selbstalarmierungen aus Ordnungen heraus“ (aus: Krisen anders denken – Ewald Frie und Mischa Meier S. 14). Dies ist eine Grundannahme, der ich mich gerne anschließen möchte.
Anders als bei der Krise, wo der Glaube vorherrscht, dass sie bewältigt werden kann (durch z.B. Krisenmanager), ist die Bedrohung eine Situation, wo die Beteiligten nicht daran glauben, diesen kommenden Zustand positiv umsetzen zu können. Lautstark wird diesen Bedrohungen Ausdruck verliehen. Erst damit bekommen die Bedrohungen Ihre Aufmerksamkeit und erst dann kommen die Hilfslosigkeit und/oder das Eingeständnis, dass der kommende Zustand nicht mehr mit den bisherigen Mitteln oder mit bisherigen Erfahrungen behandelt werden kann, hinzu.
Bedeutet das also, dass der Fachkräftemangel, die Klimakrise, das Artensterben, der steigende Rechtsradikalismus nicht Krisen sondern vielmehr Bedrohungen sind? Und wenn wir uns den Definitionen anschließen können, bedeutet das nicht vielmehr, dass es nicht weiterhilft, nach der Politik als Krisenmanager zu rufen?
Selbstverantwortung
Es ist für mich der erste Schritt der Selbstverantwortung, sich eingestehen, dass man in dieser Situation erst einmal nicht mehr weiter weiß, keine sofortige Lösung parat hat und vielleicht auch mit der Situation als Ganzes überfordert ist.
Das ist überhaupt nicht schlimm. Ganz im Gegenteil. Erst wenn ich mir diesen Zustand zugestehe, kann ich aktiv darüber nachdenken und/oder ausprobieren, was genau denn den kommenden Zustand behandelbar macht. Ich kann anfangen über Lösungen nachzudenken und rufe nicht mehr nach Anderen, die das für mich erledigen sollen.
Wir brauchen das eigene Eingeständnis, dass wir etwas radikal anderes brauchen.
Fangen wir beim Fachkräftemangel an. Er ist eine bereits vorhandene Bedrohung für die deutsche Wirtschaft. So weit sind wir uns bestimmt alle einig. Aber wie können wir dieser Bedrohung begegnen? Alle rufen hier nach (einfachen) Lösungen, die am besten von anderen umgesetzt werden.
Eine vermeintlich einfache Lösung sind Ausbildungsoffensiven. Glauben wir wirklich, dass Ausbildungsoffensiven hier etwas nachhaltiges bewirken können? Die eine Seite ist die reine Menge, die benötigt wird. Schon da stoßen wir an Grenzen. Die jetzt kommenden Generationen sind einfach nicht mehr so groß wie noch die Generationen davor.
Die jetzt in die Arbeitswelt eintretenden Generationen (Gen. Z und bald auch Gen. Alpha) haben aber auch eine andere Vorstellung von Arbeit, Leben und Leistung. Viele Unternehmen sind noch von den Erfahrungen der Generationen Babyboomer und X geprägt. Vieles von dem, was diese Generationen für richtig halten, hat in Unternehmen heute noch einen hohen Stellenwert.
Und jetzt kommen wir an eine ganz andere Herausforderung. Bisher sind Leistung und Ressourceneinsatz extraktiv besetzt. Ressourcen sind beliebig verfügbar, Leistung jederzeit steigerbar (wer weiterkommen will, muss auch mal die Extrameile gehen). Wer kennt diese Sicht auf Leistung und Ressourcen nicht?
Das Verständnis von Leistung und das extraktive Nutzen von Ressourcen sind zwei Themen, mit denen wir uns beschäftigen müssen.
Ein Unternehmer hat mal in einem Gespräch mit mir gesagt, dass er wisse, dass nicht alle Produkte in seinem Unternehmen zukunftsfähig sind. Er fahre deshalb eine Abschöpfungsstrategie. Er meint wohl sinngemäß, die bisherigen Produkte so lange am Markt erhalten, bis sie keiner mehr kaufen möchte und noch so viel Umsatz und Ertrag mitnehmen wie möglich.
Aus seiner Sicht, einzeln betrachtet, vielleicht ein guter Weg. Wenn nicht viele Unternehmen in Deutschland genau diese Strategie pflegen würden.
Abschöpfen, so viel es geht. Ich nenne das extraktive Leistungskultur. Dabei gehen die Unternehmen mit Mitarbeitenden genau so um, wie sie es in diesem System mit allen Ressourcen tun.
Der Druck auf Unternehmen ist immens. Produktivität und Profitabilität müssen immer weiter gesteigert werden.
Aus diesem Druck heraus, handeln Unternehmer viele Unternehmer gar nicht mit bösen Willen.
Neue Herausforderungen
Wir müssen immer Leistung bringen. Ohne Leistung kein Erfolg. Und der Satz „wir erwarten, dass Sie auch die Extrameile gehen…“ lockt bei den jungen und kommenden Generationen niemanden mehr.
Sie haben längst verstanden, dass Leistungsfähigkeit Ihre Grenzen hat. Dadurch entsteht ein Konflikt, der aufgelöst werden muss. Ohne die Auflösung dieses Konfliktes werden wir den Fachkräftemangel nicht lösen können.
Und die, die in den Augen der Unternehmen zu den Leistungswilligen gehören, müssen jetzt unbedingt gehalten werden. Einen Weggang können sie sich nicht leisten. Es wird diesen Leistungsträgern alles gegeben, was sie wollen.
Wenn man ganz genau hinsieht, ist dies jedoch keine längerfristige Lösung.
Schauen wir auf die Krankenstände[1] in den Unternehmen, wird eines deutlich.
Die Krankenstände sind hoch. Burn-Out Raten schnellen in die Höhe. Psychische Erkrankungen sind an der Tagesordnung.
Niemand ist auf Dauer in der Lage, auf Dauer Höchstleistungen zu erbringen. Diese Form der Extraktion bringt uns unweigerlich an den Rand der Selbstzerstörung.
Diejenigen, die einen Burn-Out erleiden, entscheiden sich für eine andere Form von Leistung. Sie schauen genauer auf sich selbst, nehmen sich Zeit für Regeneration und versuchen ein gesundes Gleichgewicht zwischen Arbeit und Leben zu erhalten.
Genauso sieht es mit den anderen Ressourcen aus. Unternehmen beschäftigen sich seit einiger Zeit viel mit dem Thema Nachhaltigkeit. Oft ist dies aber eher ein Ablasshandel. Produziere ich einen hohen CO² Ausstoß, kaufe ich halt ein paar Zertifikate und schon bin ich Nachhaltig. Zugegeben, etwas provokant überzogen und verkürzt dargestellt.
Auch hier benötigen wir etwas anderes. Aus meiner Sicht ist es wichtig, die Ressourcen so einzusetzen bzw. zu gebrauchen, dass das System sich immer wieder regenerieren kann. Der Earth Overshoot Day [2]war in 2023 der 02. August. An diesem Tag hat die Welt sämtliche Ressourcen, die in einem Jahr zur Verfügung stehen, verbraucht. Im Jahr 1970 lag dieser Tag am 29. Dezember. Wenn man nur auf Deutschland[3] schaut, wird das Ganze noch dramatischer. Hier war der Verbrauch der jährlichen Ressourcen bereits am 04. Mai „perfekt“.
Angesichts der „Krisen“, ich sage lieber angesichts der anstehenden Bedrohungen, wie Bedrohung des Klimas, ökologisches Massensterben, soziale Polarisierungen, die wir weltweit, insbesondere auch in Europa erleben, steht das Wirtschaftssystem, wie wir es heute kennen vor einer fundamentalen Transformation.
Mögliche Lösungen
Produktivität und Leistungsfähigkeit müssen neu gedacht werden. Der Leistungsbegriff braucht eine andere Definition und Grundlage. Es darf nicht mehr um Extraktion gehen, sondern vielmehr um Regeneration.
Das bedeutet auch, das Visionen und Strategien neu erarbeitet werden müssen. Hier kommen insbesondere auf Unternehmenslenker große Herausforderungen zu. Vielleicht können Sie anfangen, die nachwachsenden Generationen in diesen Prozess einzubinden und zu beteiligen. Dann besteht die Chance, dass die unterschiedlichen Generationen miteinander und nicht übereinander reden.
Das künftige Zielbild in Unternehmen sollte dabei die Regeneration sein. Diese Regeneration bedeutet für viele Unternehmen die Transformation Ihres Geschäftsmodells.
Ein solches regeneratives Geschäftsmodell braucht auch ein anderes Betriebsmodell bzw. ein anderes Betriebssystem.
Dieses neue Betriebssystem muss Regeneration dabei in den Mittelpunkt allen Handelns stellen. Die innerbetrieblichen Abläufe und Strukturen müssen so gestaltet werden, dass Regeneration als Wert mit entsprechenden Verhaltensprinzipien Eingang in die Unternehmenskultur Einzug halten können.
Ob diese Transformation disruptiv erfolgen muss oder doch eher evolutionär erfolgen kann, ist eine Frage der Zeit, die uns noch verbleibt, um ein Agieren auf die Bedrohungen positiv gestalten zu können. Bei der Klimabedrohung setze ich eher auf disruptiv, viel Zeit bleibt uns nach heutigem Stand wohl nicht mehr.
Wie kann ein solches neue Betriebssystem aussehen? Eine Antwort darauf kann ich nicht geben. Es gibt bisher keine ausreichenden Erfahrungen. Ich kann mir aber vorstellen, dass bestimmte Eigenschaften in Unternehmen helfen können, auf dieses neue Betriebssystem eine Antwort zu finden.
- Auf Schwarmintelligenz setzen. Das bedeutet, einen kollektiven Ansatz. Nicht mehr der Einzelne, sondern die Gruppe erbringen die Leistung. Es entsteht eine Kultur, die Leistung als gemeinsame Ausrichtung und Entwicklung in den Mittelpunkt stellt. Es sollte auf sogenannte Wertschöpfungsteams gesetzt werden, die eigenverantwortlich die nachfolgenden Phasen nutzen, um Leistung – neu gedacht – zu erbringen.
- Es braucht im Unternehmen künftig drei Phasen:
- Lernphase
- Entwicklungsphase
- Regenerationsphase
- Daraus entsteht ein Rhythmus im Unternehmen, dass in jeder Einheit unterschiedlich sein kann. Das bedeutet unterschiedliche Geschwindigkeiten in Gruppen und bei Einzelnen
- Eigenverantwortung und Selbstorganisation. Es braucht künftig die Selbstorganisation entlang einer (ggf. neu etablierten) Wertschöpfungskette. Dabei agieren die Einheiten dezentral und eigenverantwortlich. Die Einheiten in den Unternehmen laufen dabei in keiner Weise synchron sondern vielmehr unterschiedlich in Art und Zeit
- Veränderungen werden nicht mehr zentral organisiert, sondern vielmehr aus den jeweiligen Einheiten heraus organisiert. Dabei braucht es auch das Verständnis, dass die eigene Weiterentwicklung Teil des Kerngeschäfts des Unternehmens ist.
Damit diese dezentralen Veränderungen sich gut entfalten können und entsprechende Wirkung erzielen können, braucht es immer wieder Phasen der Reflexion und des inneren Wachsens. Auch dies muss Bestandteil des Kerngeschäfts werden.
Auch ich habe nicht auf alle Fragen eine Antwort. Dies zu behaupten, wäre sehr vermessen. Ich spüre nur, dass es diese Veränderungen dringender braucht als wir uns das heute vorstellen.
So könnte der vorgenannte Ansatz dazu helfen, die notwendige Transformation in Unternehmen zu beginnen. So werden wir erleben, dass aus den Bedrohungen heraus, neue intelligente Lösungen entstehen, die für Fortbestand und Weiterentwicklung gleichermaßen notwendig sind.
Mir ist dieser Gedankenimpuls wichtig. Ich bin überzeugt, dass wir so Wege finden, Unternehmen in Deutschland zukunftsfähig aufzustellen und damit eine neu Ausrichtung unseres Wohlbefindens zu erreiche. Ich sage bewusst Wohlbefinden, weil ich glaube, dass auch der Begriff Wohlstand zunehmend negativer besetzt sein wird.
Ich bin offen für den Dialog hierüber und freue mich über eine direkte Kontaktaufnahme.
[1] BKK Gesundheitsreport 2021 (bkk-dachverband.de) Statistiken ab Seite 99 ff.
[2] Earth Overshoot Day | WWF in 2023 am 02. August
[3] Erdüberlastungstag: Ressourcen für 2022 verbraucht | Umweltbundesamt 04. Mai (auch für 2023)